MONDSTRAßE
An einem späten Januarabend war Anna nach der evangelistische Versammlung auf dem Weg nach Hause. Die engen Straßen ihres kleinen deutschen Städtchens, die vor Kälte erstarrt zu sein schienen, waren wüstenleer. Nur vor den hellbeleuchteten Cafés und Restaurants tauchten ab und zu dunkle Menschengestalten auf und verschwanden dann wieder. Riesenblöcke der Wohnhäuser glitten im Gelblicht ihrer Fenster an den Autoscheiben vorbei. Am Bahnhof hielt Anna kurz an, denn sie wollte hier für ihren Sohn die versprochenen Chips besorgen.
Auf dem Parkplatz stieg Anna ohne Eile aus dem Auto, wickelte sich fester in ihr Tuch und schaute sich um, in diesem Moment fiel ihr die Frau in einer braunen Jacke auf. Diese Frau stand im Laternenlicht an der Bushaltestelle und sah ziemlich niedergeschlagen aus. Irgendetwas an dieser Figur kam Anna bekannt vor. Aber als Anna sich ihr Gesicht etwas genauer anschaute, vertrieb sie gleich den Gedanken.
Die Unbekannte war so um die vierzig, ihr gefärbtes Haar floss frei bis zum vollen Hals, ihr tief zerfurchtes Gesicht sah erschöpft aus. Ein blaues Auge sprach für sich. 'Sie kommt bestimmt aus der ehemaligen Sowjetunion' stellte Anna für sich fest. Zweifellos, ausdrucksloser Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, Mimik und Gestik, all das ist wie ein Erkennungszeichen, daraus holt sich ein erfahrener Beobachter die notwendigen Informationen über die Herkunft eines unbekannten Menschen.
Schnell hatte Anna im Bahnhofsladen ihre kleinen Einkäufe erledigt und ging zum Auto zurück.
"Entschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen, wie ich in die Stadt N. fahren kann?" In ziemlich gebrochenem Deutsch wandte sich die Frau unsicher an Anna, als diese an der Bushaltestelle vorbeieilte.
Wie ein Stich ins Herz! 'Diese Stimme, so eine bekannte Stimme...!"
"Ich fahre gerade dorthin. Soll ich Sie mitnehmen?"
"Nein, vielleicht fahre ich doch lieber mit dem Bus..." Die Frau zögerte eine Weile und ihr Gesichtsausdruck wurde dabei noch verlegener. "Wissen Sie, ich habe auch kein Geld fürs Taxi."
"Sie brauchen mir nichts zu bezahlen", sagte Anna auf Russisch.
"Wirklich?" die Frau reagierte sofort auch auf Russisch und errötete. "Ach, wie gut Sie aber Deutsch sprechen, ich hätte nie gedacht, dass Sie auch eine von uns, von den Aussiedlern, sind."
"Haben Sie Gepäck?" Anna schaute auf ihre Armbanduhr, zu Hause wartete der Sohn auf sie und sie hatte es eilig.
"Nein, ich habe nichts", wieder tauchte Verlegenheit im Gesicht der Unbekannten auf, aber nur kurz. "Ich bin so, auf leichtem Fuß."
"Ich dachte nur, dass Sie mit dem Zug gekommen seien, und unsere Leute…, na, Sie wissen ja, unsere Leute, die sind fast immer mit viel Gepäck unterwegs."
"Genau, das kenne ich auch", das Lachen der Frau klang etwas unnatürlich. "So sparen wir: wir kaufen da ein, wo es billiger ist, und das Essen für unterwegs schleppen wir auch von zu Hause mit."
Anna setzte sich ans Steuer, mit einer eingeübten Bewegung strich sie ihr langes Haar zurecht, auch ihr Tuch, das sie um den Hals gebunden trug, schaute die daneben sitzende Frau aufmerksam an und schlug vor: "Wollen wir uns nicht bekannt machen? Ich heiße Anna."
"Kathrin. Aber Sie können mich Katja nennen... wie in Russland."
Eine heiße Welle ging durch Annas Körper. Jetzt glaubte sie genau zu wissen, wer ihre Mitfahrerin war. Aber sie verdrängte schnell diese schreckliche Vermutung ins unerreichbare Unterholz ihres Gedächtnisses. "Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht wahr sein!" Sie hob ihre zitternden Hände vors Gesicht und sagte: "Ich muss noch beten…, vor dem Losfahren."
Die Mitfahrerin nickte müde und saß eine Weile da, ohne sich zu rühren. Nach dem Beten hatte Anna sich beruhigt und so fuhren sie langsam los. Anna vermied es, Katja anzuschauen.
"Ich bin Ihnen ja so dankbar", unterbrach Katja nach ein paar Minuten das Schweigen. "Wissen Sie, wir sind erst vor kurzem nach Deutschland gekommen und ich orientiere mich hier noch ganz schlecht... Mein Mann hat mich verprügelt", sagte sie nach einer kurzen Pause. "Und das nicht zum ersten Mal...! Nun bin ich weggegangen, ich weiß nicht wohin, einfach weg wollte ich. Aber machen Sie sich um mich keine Sorgen, in N. lebt eine Bekannte von mir, bei ihr kann ich übernachten."
Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie schluchzte laut, wühlte dann in ihrer Jackentasche, zog eine angebrochene Zigarettenschachtel raus, drehte sie in der Hand ein paar Mal um und steckte sie wieder zurück in die Tasche.
"Rauchen tut sie auch noch! Das ist ja abscheulich", dachte Anna, indem sie von der Hauptstraße zur geöffneten Schranke abbog. Das Auto befuhr mit leichtem Rütteln eine mit grauen Steinen gepflasterte Nebenstraße.
"Wir nehmen den Weg durch den Wald", erklärte Anna, "an den ehemaligen Kasernen vorbei. So ist es näher."
Die Mitfahrerin nickte zustimmend und setzte schniefend ihre 'Beichte' fort.
"Wir haben mehrere Jahre einfach so zusammengelebt, ohne zu heiraten. Ich hätte ihn schon im ersten Jahr unseres Zusammenlebens verlassen sollen. Aber ich dachte dann immer wieder: es wird schon irgendwie gehen, wir werden uns schon irgendwann anpassen. So Manches habe ich von ihm ertragen müssen, und alles habe ich ihm verziehen. Später haben wir dann doch standesamtlich geheiratet. Und jetzt – wohin soll ich jetzt ohne ihn...? Er trink viel, na ja, und wie sich betrunkene Männer aufführen, das wissen Sie ja selber... Unser erstes Jahr lebten wir in Perm, einer Großstadt, alt, sehr schmutzig und verstaubt. Wir hatten da ein kleines Zimmer in einer alten Holzbaracke. Aber in einer Stadt auch nur ein Zimmer zu haben, war schon ein großes Glück! Von Manchen wurden wir sogar beneidet: mein Viktor war damals Offizier, ein Leutnant, und ihm stand dienstlich eine Wohnung zu."
Anna zitterte am ganzen Leibe. Vor der schrecklichen Wahrheit konnte sie jetzt nicht mehr fliehen. Alles, wovon diese Frau erzählte, war nun die unbekannte Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte, die vor 20 Jahren begonnen hatte…
Sie fuhren weiter… Es war Vollmond. Der pfeilgerade Pflasterweg führte durch einen Wald. Hohe Bäume, die an beiden Seiten wie dunkle Märchengestalten emporragten, gerieten ab und zu ins Licht der Autoscheinwerfer. Sie rasten dann wie Riesen dem Auto entgegen und verschwanden dahinter, als ob sie sich im Mondlicht aufgelöst hätten. Etwas entfernt von der Straße konnte man kleine grüne Kieferngruppen erkennen und unter denen weiß leuchtenden Schneeinseln. Ein Fuchs flitzte über den Weg…
'Auch damals gingen wir eine mondbeschienene Straße entlang' ging es Anna durch den Kopf… Sie bremste stark und hielt an. Ihre eigene Stimme war kaum zu erkennen, als sie sagte: "Ich bekomme zu wenig Luft, ich muss kurz die Scheibe runterdrehen."
"Ach wie schön, dann kann ich ja draußen eine rauchen, o.k.?"
Anna antwortete nichts: weit weg von hier war sie mit ihren Gedanken...
Es geschah vor rund 20 Jahren: "Viktor, darf ich vorstellen? Meine beste Freundin, Katja, eine Studentin übrigens." Mit verliebten Augen sah Anna, damals ein junges Mädchen, ihren Bräutigam, einen gutgebauten, dunkelhaarigen, jungen Mann in Uniform, an. Morgen heiraten sie und heute traf sich Anna mit Viktor, um ihm ihre beste Freundin vorzustellen. Katja sollte bei der Hochzeit als Trauzeugin dabei sein. Es war ein lauer Sommerabend. Die Tageshitze wurde von einem leichten frischen Wind mit dem Duft der Felder und Obstgärten durchmischt. Wie mit einer grauen, leichten und durchsichtigen Decke umhüllte die Abenddämmerung alles ringsum: Bäume, Felder, Häuser, das ganze Tal. Irgendwo auf der anderen Dorfseite spielte ausgelassen eine Ziehharmonika. Der Vollmond spiegelte sich im schnellen Wasserstrom des Bergflusses, beleuchtete schwach den schmalen Pfad, der zu den dunklen Berghängen führte.
"Sehr angenehm", sagte Viktor höflich und reichte Katja die Hand. Danach gingen sie zu dritt weiter. Sie unterhielten sich sorglos über unbedeutende Sachen, worüber genau, wusste Anna heute nicht mehr. Sie war damals sehr glücklich, ihre Brust war mit Freudeluft gefühlt, und mit jedem Atemzug war der kommende Tag immer näher. Ihre Schwangerschaft, die sie Viktor bis heute verschwiegen hatte, die ihr aber keine Ruhe gab, sollte sich nach ihrer Hochzeit in ein langes – langes glückliches Zusammenleben mit dem Vater ihres noch nicht geborenen Kindes weiterentwickeln. 'Morgen sage ich es ihm. Morgen, alles morgen...!' Viktor brachte sie nach Hause, mit ihrem Einverständnis ging er dann mit Katja, um auch sie nach Hause zu begleiten. Er ging, um nie wieder zurückzukommen.
Katja stieg ins Auto, knallte die Tür zu.
"Wie sie nach Tabak stinkt!" Anna rückte so weit wie möglich von ihrer Mitfahrerin weg und ließ den Motor an.
"Die Zigarette hat mir gut getan, jetzt geht 's mir irgendwie besser", sagte die Frau. "Ich bereue es schon, dass ich mit Ihnen gefahren bin. Ich muss ja sowieso wieder zurück."
"Alle müssen wir irgendwann zurück", erwiderte Anna nachdenklich. Eben, vor einigen Sekunden wusste sie noch nicht, was sie tun solle. Der Kopf brummte voller Gedanken, ein zwingender Schmerz bohrte sich ins Herz. Jetzt aber hatte sie sich plötzlich beruhigt. Sie sah das dunkle Profil der neben ihr sitzender Frau an und fragte: "Haben Sie Kinder?"
"Kinder? Mit solchem Ehemann? Zweimal war ich schwanger, aber jedes Mal hat er die Schwangerschaft mit Fäusten aus mir herausgeprügelt."
"Wie schrecklich!" Anna schüttelte mit dem Kopf und fragte: "Glauben Sie an Gott?"
"Wer glaubt denn nicht an Ihn? Klar, glaube ich!"
"Und? Gehen Sie auch in die Kirche?"
"Wozu denn? Ich bin ja keine von den 'Verfallenen', dass ich in die Kirche... Für so ein Leben, das ich mit meinem Mann führen muss, werden es mir nicht nur die Menschen, sondern auch Gott selbst, nicht übel nehmen. Was ich seinetwegen nicht alles durchgemacht habe! Mein Studium an der Hochschule musste ich schon im ersten Jahr abbrechen, meine ungeborenen Kinder habe ich verloren. Meine Freundinnen – sogar die sind weg. Was ist mir noch im Leben übriggeblieben? Und wenn ich mich unter den Zug werfen sollte, sogar das würde mir Gott vergeben!"
"In der Bibel steht, dass jeder Mensch gesündigt hat. Nur durch Christus, durch Buße, kann der Mensch vor das Antlitz des Allmächtigen Vaters treten. Und unter den Zug – das lassen Sie lieber, das ist dumm und grausam!"
"Ja, bei uns zu Hause waren auch einmal solche", Kathrin lächelte wehmütig, "sie predigten genau so, wie Sie. Rausgeschmissen hat mein Mann sie! Geschrieen hat er dabei: "Was? Zu mir, zu einem russischen Offizier mit Popenpredigten ins Haus!?"
"Zu der Zeit aber war er schon längst kein Offizier mehr, wegen Sauferei und Randale hatte man ihn schon vor zehn Jahren aus der Armee hinausgeworfen. Als es dann dazu kam, nach Deutschland auszureisen, ist er schließlich mit mir, mit einer Deutschen, mitgekommen. Ich erhoffte mir, dass unser Leben hier besser sein würde. Aber er trinkt jetzt noch mehr. Gott! Was für ein Gott? Er will nichts davon hören! Und ich? Ob ich gesündigt habe? Ich weiß nicht, aber bei solch einem Leben, wer bleibt da schon ohne Sünde? Ich glaube, wir sind angekommen. Ich muss bald aussteigen."
"Ja, Sie haben recht… daran, an den Sünden liegt auch alles. Glauben Sie ja nicht, dass ich eine Heilige bin. Ich erziehe meinen Sohn alleine, ohne Ehemann, dann heißt es ja auch, dass ich ihn unehelich geboren habe. Aber durch meinen Glauben an Jesus Christus kann ich ein ruhiges und glückliches Leben führen."
"Und was ist das für ein Glück, bitte? Da habe ich vielleicht mit meinem Säufer doch noch mehr davon", winselte Katja entgegen. "Wenn er mich auch schlägt, aber er gehört mir, er ist mein..."
'Gehört er dir wirklich!' schrie Anna beinahe los, aber es gelang ihr rechtzeitig sich auf die Zunge zu beißen. Sie hat in ihrem ganzen ungelungenen Leben auch gar nichts, womit sie prahlen kann, außer ihren Ungeheuermann, dachte sie.
In der Stadt N., in der sie angekommen waren, löste sich das silberne Mondlicht im Schein der Neonlampen auf. Der Mond selbst hatte sich hinter den Häusern versteckt. So, hier endet die mondscheinbeleuchtete Straße, dachte Anna, sie atmete müde auf und fragte: "In welche Straße müssen Sie?"
"Es ist nicht weit von hier. Ich gehe zu Fuß."
Anna fuhr näher an den Bürgersteig und brachte das Auto zum Stehen. Sie machte Licht im Auto an und sagte: "Und trotz allem, denken Sie mal daran, ob für Sie nicht doch die Zeit zur Beichte gekommen ist. Das Leben bekommt man nur einmal und ohne Gott gibt es da nichts Gutes."
"Ich werde es mir überlegen", Katharina schaute sie abwesend an, stieg aus und ging, die Schulter hängend, langsam zur Kreuzung. Dort blieb sie eine Weile zweifelnd stehen, schaute sich um und winkte Anna zu.
Anna blieb nachdenklich noch im Auto sitzen und musterte im Spiegel ihr eigenes Gesicht.
'Wieso hat sie mich nicht wiedererkannt? Ich habe mich ja kaum verändert.'
Im kleinen Glas spiegelten sich ihre großen, aufgeregten Augen, ihr junggebliebenes Gesicht mit ein paar Lachfältchen um den Mund. 'Sie hat mich vielleicht genau deswegen nicht wiedererkannt, weil ich mich ja kaum verändert habe.' Mit einer sicheren Schlüsselumdrehung ließ sie den Motor an und fuhr langsam los. Als sie in ihre ruhige, schwach beleuchtete Straße ankam und vor ihrem Haus ausstieg, sah sie hoch zum Himmel: über der Stadt schaukelte eine Silberpracht von glänzenden Sternen in dunkler Wiege der kalten Januarnacht…
Zu Hause beteten sie noch lange mit dem Sohn zusammen. Danach nahm Viktor seinen Lieblingsplatz vor ihrem Sessel ein, um ihr noch etwas aus der heutigen Zeitung vorzulesen. Sie streichelte ihm über sein pechschwarzes Haar und schlief so, im Sessel sitzend, ruhig ein…
Aus dem Russischen übersetzt von Katharina Kucharenko
Illustration: Jkow Rogalsky